Die europäische Landschaftskonvention - ohne Deutschland.

Dies ist die Langfassung eines Artikels von Christoph Schwahn, der in der Ausgabe Februar 2005 der Zeitschrift „Garten und Landschaft“ erschienen ist.

Kaum jemand in Deutschland hat sie wahrgenommen. Still und unbemerkt trat sie in Kraft, die erste Übereinkunft weltweit, die sich dem Schutz, vor allem aber der Entwicklung und bewussten Planung von Landschaft widmet: die europäische Landschaftskonvention. Nachdem elf Staaten sie ratifiziert hatten, wurde sie in diesen Staaten rechtskräftig – erheblich schneller, als sich ihre Schöpfer im Europarat vorgestellt hatten, obwohl sie von bereits 18 europäischen Staaten sie am 20. Oktober 2000 in Florenz unterzeichnet worden war.

Es überrascht, dass Deutschland diese Konvention weder unterzeichnet noch ratifiziert hat. Überraschend ist auch, dass ihr in unserem Land keine größere Beachtung geschenkt wurde. Die europäische Landschaftskonvention ist in Deutschland nahezu unbekannt.

Dabei besitzt Landschaft als Wert in Deutschland eine lange Tradition, die nicht von der Regierung, sondern stets zunächst vom Volk ausging. Herausragend sind die Bewegung der „Landesverschönerung“ Mitte des 19. Jahrhunderts, gefolgt vom Gedanken des Natur- und Landschaftsschutzes, der Wandervogelbewegung und nicht zuletzt den vielen Verbänden und Bürgerinitiativen, die sich dem Schutz und der Entwicklung von Landschaft in den unterschiedlichsten Formen verschrieben haben.

Erst in Folge dieser Bewegungen war Deutschland unter den ersten europäischen Ländern, die den Natur- und Landschaftsschutz in ihrer Gesetzgebung verankert haben. Die je nach Bundesland „Naturschutz“- oder „Landschaftsbehörde“ genannte Fachverwaltung in Deutschland ist heute hinsichtlich ihrer personellen Ausstattung im europäischen Kontext unerreicht. Auch die Zahl der Universitäten und Fachhochschulen, in denen Fachleute für Natur- und Landschaftsschutz oder Landschaftsarchitekten ausgebildet werden, ist in Deutschland so hoch wie in keinem anderen Land Europas. In Deutschland wurden Planungsinstrumente und Bewertungsverfahren für ökologische Raumplanung entwickelt, die weltweit Anerkennung finden.

Vielleicht ist aber gerade dies ein Grund dafür, dass eine europäische Landschaftskonvention in Deutschland auf taube Ohren stößt. Ein hochentwickelter Apparat mit zahlreichen Verwaltungsprozeduren weist bekanntlich gegenüber Innovationen eine starke Massenträgheit auf. Viele Inhalte der europäischen Landschaftskonvention scheinen in Deutschland bereits institutionalisiert zu sein. So könnte von deutschen Entscheidungsträgern, die zudem gegenwärtig ganz andere Probleme im sozialen und finanziellen Bereich zu bewältigen haben, die europäische Landschaftskonvention als Instrument dafür betrachtet worden sein, unterentwickelte europäische Staaten auf den Standard eines Umganges mit Landschaft zu heben, der in Deutschland seit Jahrzehnten praktiziert wird.

Es scheint auch, dass aus deutscher Sicht der Europarat als innovative Institution immer weniger wahrgenommen wird. Zumindest sickert als Begründung für die Nichtanerkennung der europäischen Landschaftskonvention gelegentlich die Auffassung durch, der Europarat sei nach der Gründung der Europäischen Union mehr oder weniger überflüssig geworden. Den Inhalt einer Konvention könne man ja auch anwenden, ohne diese zu ratifizieren. Und die Nichtanwendung einer Konvention würde ohnehin nicht geahndet.

Zumindest im letzten Punkt hat Deutschland kürzlich eine Lektion erhalten. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom Januar 2004 zur Problematik von Enteignungen in der ehemals sowjetisch besetzten Zone hat einem nur etwas über zehn Jahre alten bundesdeutschen Gesetz einen klaren Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention attestiert. Auch diese Konvention kam vom Europarat. Die Konsequenzen aus dem Urteil werden auf die Größenordnung von über einer Milliarde Euro geschätzt.

Deutlich wird ferner, dass Deutschland längst nicht mehr Vorreiter einer räumlichen Planung ist, welche in ökologisch und sozial umfassender Weise die Entwicklung der Landschaft vorzeichnet. Vor allem Slowenien hat seit langem die Chancen erkannt, welches dieses Land durch seine einzigartigen Landschaften auch in wirtschaftlicher Hinsicht besitzt. Räumliche Planung und Landschaftsplanung sind dort untrennbar ineinander verzahnt, eine umfassende Bürgerbeteiligung stellt sicher, dass die Ziele der Landschaftsentwicklung auch von den Einwohnern mitgetragen werden – unverzichtbar für ihre Realisierung. Mittlerweile sind Landschaftsschutz und Landschaftsentwicklung gerade auch in Osteuropa lebendige Themen der öffentlichen Diskussion, deren Niveau keinen Unterschied zu gleichartigen Diskussionen in Großbritannien, Dänemark oder den Niederlanden aufweist.

Es ist nicht die europäische Landschaftskonvention, die diese Diskussionen in Gang gebracht hat – sie ist in deren Folge entstanden. Es handelt sich hierbei um keine Direktive der Europäischen Union, sondern genau um das Gegenteil. Die europäische Landschaftskonvention ist entstanden aus nationalen, sogar regionalen Initiativen, also von unten nach oben. Der Europarat als älteste europäische Institution (gegründet 1949, also lange vor der Europäischen Union als politischer Instanz) hat diese Ideen aufgegriffen und in der Europäischen Landschaftskonvention zusammengefasst. Er tat dies in Erfüllung seiner selbst gesetzten Aufgabe der Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten sowie der Suche nach gemeinsamen Lösungen für die großen Probleme der heutigen europäischen Gesellschaft. Als ein solches werden Schutz und Entwicklung der europäischen Landschaften angesehen.

Was will die europäische Landschaftskonvention erreichen? In erster Linie: gesunde, nachhaltig stabile Lebensverhältnisse für Mensch, Tier und Pflanze. Sie will eine räumliche Planung, die sich an diesen Prinzipien orientiert und die Bürger in den Planungsprozess einbezieht. Sie wünscht sich zufriedene Bürger, deren Wertvorstellungen gegenüber ihrem Lebensraum durch offene Beteiligung in die öffentlichen Wertsetzungen bezüglich Landschaft einfließen. Sie möchte, dass Landschaft in die Diskussion gerät, dass die Bürger von der Schulbank an durch Bildung, Ausbildung und Information über die vielfältigen Bedeutungen in Kenntnis gesetzt werden, die ihr räumliches Umfeld für die Qualität ihres Lebens hat. Sie regt innovative Prozesse im Umgang mit Landschaft an, für die ein eigener Preis ausgeschrieben wird: der Landschaftspreis des Europarats. Sie will, dass Landschaft über die Grenzen von Ländern und Fachdisziplinen betrachtet, erörtert und unter dem Prinzip der Nachhaltigkeit behutsam gestaltet wird.

Haben wir dies alles bereits erreicht in Deutschland, so dass wir uns um die europäische Landschaftskonvention nicht kümmern müssen? Diese Fragestellung mag jeder selbst für seinen Wirkungshorizont beantworten, wenn im Folgenden die Grundzüge der europäischen Landschaftskonvention dargelegt werden.

Die präzise Verwendung von Begriffen ist die erste Innovation, mit der die europäische Landschaftskonvention die Rechtslandschaft belebt. In ihrem Artikel 1 definiert sie alle Begriffe, die in ihrem weiteren Verlauf wichtige Schlüsselpositionen erhalten: „Landschaft“, „Landschaftspolitik“, „landschaftsbezogenes Qualitätsziel“, „Landschaftsschutz“, „Landschaftspflege“ und „Landschaftsgestaltung“. Also selbst der letztgenannte Begriff, der sich eigentlich selbst erklären sollte, erhält eine Erläuterung dessen, was sich die Schöpfer der Europäischen Landschaftskonvention hierunter vorstellen. Vor dem Hintergrund der europäischen Sprachvielfalt erscheint eine solche Vorgehensweise nachvollziehbar, gar unverzichtbar.

Aber auch in Deutschland ist eine Präzisierung beim Umgang mit Begriffen alles andere als überflüssig, denn im Land der Dichter und Denker hat sich eine bemerkenswerte Nachlässigkeit im Umgang mit Begriffen breit gemacht. „Landschaft“ und „Umwelt“, ja selbst „Natur“ werden nicht selten als Synonyme verstanden. So äußerte beispielsweise der Hauptverwaltungsbeamte eines niedersächsischen Landkreises, dass Windenergieanlagen doch kein Problem für die Landschaft darstellen könnten, da ihr Nutzen für die Umwelt unbestritten sei. Die Doppelformel „Natur und Landschaft“ in den Naturschutzgesetzen von Bund und Ländern manifestiert die Unsicherheit beim Umgang mit Begriffen ein weiteres Mal. Dass hierunter eine flächendeckende Betrachtung bei der Anwendung der Gesetze in dem Sinne zu verstehen ist, dass sie sowohl in natürlich erscheinenden Landschaften als auch in dicht besiedelten Stadtlandschaften gelten, wird erst beim Lesen der Kommentare erkennbar.

Die europäische Landschaftskonvention hingegen schafft Klarheit unmittelbar. Das in der deutschen Übersetzung „europäisches Landschaftsübereinkommen“ genannte Vertragswerk findet nach Artikel 2 „Anwendung auf das gesamte Hoheitsgebiet der Vertragsparteien und erfasst natürliche, ländliche, städtische und stadtnahe Gebiete. Es schließt Landflächen, Binnengewässer und Meeresgebiete ein. Es betrifft Landschaften, die möglicherweise als außergewöhnlich betrachtet werden, sowie gewöhnliche oder geschädigte Landschaften“.

Somit ist auch klar, dass die Europäische Landschaftskonvention keinesfalls ausschließlich besondere Kulturlandschaften im Blickfeld hat, wie sie in Deutschland von einigen hieran Interessierten gelegentlich ausgelegt wird. „Möglicherweise als außergewöhnlich betrachtet werden“ bekennt sich zur Subjektivität menschlichen Urteils und weist dieser Subjektivität einen gleichberechtigten Platz neben objektiven Bewertungen zu. In Deutschland würde die Außergewöhnlichkeit einer Landschaft vermutlich von einer Behörde festgesetzt.

Für uns Deutsche ist die Tatsache bemerkenswert, dass die in der europäischen Landschaftskonvention verwendete Definition von
„Landschaft“ ihre Ursprünge in Deutschland hat. Alexander von Humboldt, großer Geograph des 19. Jahrhunderts, hat mit seinem Verständnis von Landschaft als „Totalcharakter einer Erdengegend“ weltweit Maßstäbe gesetzt. Die Konvention übernimmt dies: „„Landschaft“ ein vom Menschen als solches wahrgenommenes Gebiet, dessen Charakter das Ergebnis des Wirkens und Zusammenwirkens natürlicher und/oder anthropogener Faktoren ist“.

Erstmals weltweit würdigt somit eine Konvention die Ganzheitlichkeit der Landschaft. Das „Ergebnis des Wirkens und Zusammenwirkens …“, der „Charakter“ oder, wie von Humboldt genial in seinem „Totalcharakter“ ausgedrückt hat, ist das genaue Gegenteil von dem, was hierunter häufig verstanden wird – ein Bild („das Landschaftsbild“) als visuelle Abbildung oder visueller Anblick der „Natur“ oder der „Umwelt“. Totalcharakter bedeutet, dass Landschaft schlichtweg alles beinhaltet: Stein und Boden, Luft und Wasser ebenso wie Pflanze und Tier, Mensch und – dessen Gefühle, die von seinen Erinnerungen und Vorahnungen ebenso beeinflusst werden wie von den Wahrnehmungen des Augenblicks. Dieser ganzheitliche Ansatz birgt für die meisten Fachleute unserer Tage ein Problem, da die Naturwissenschaften sich seit langer Zeit genau auf das Gegenteil verlagert haben: das Zerlegen eines Gesamtkomplexes in seine Einzelteile und die Spezialisierung auf diese.

Vielleicht wird der Totalcharakter von Landschaft verständlicher, wenn man die Parallelität betrachtet, die zwischen dem Komplex „Landschaft“ und dem Komplex „Mensch“ existiert. Beide sind eindeutig mehr als die Summe ihrer Bestandteile; ihre Vielschichtigkeit und Komplexität wird dem Menschen wohl für alle Zeit unzugänglich bleiben wie die Weite des Weltalls. Zwar hat die Naturwissenschaft einige Erfolge damit erzielt, der Komplexität durch Zerlegen in Einzelteile zu begegnen. Landschaft wird aufgelöst in ihre einzelnen Bestandteile (Boden, Wasser, Luft, Pflanzen, Tiere), denen sich Spezialisten genau so akribisch widmen wie Urologen, Internisten, Neurologen oder Psychologen den Einzelteilen des Menschen. Die Gesamtheit, das Wesen von Mensch oder Landschaft, kommt gleichwohl bei dieser Betrachtungsweise zu kurz: man erkennt es nicht, man ignoriert es und kann sich dennoch seiner Bedeutung nicht entziehen. „Sie sind gesund“, sagt der Arzt nach eingehender Untersuchung, und enttäuscht geht der Mensch wieder nach Hause, seine Schmerzen mit sich nehmend. „Es dient unserer Umwelt“, sagen die Planer, und wer sich dennoch an der Veränderung seiner Heimatlandschaft durch Windenergieanlagen stört, muss mit seinem ästhetischen Konflikt allein bleiben.

Die Nichtachtung ästhetischer Konflikte bei der Landschaftsveränderung in öffentlichen Planungsprozessen zeigt, dass die Bedeutung von „Landschaft“ für den Menschen gerade auch in Deutschland weniger unterschätzt als vielmehr ignoriert wird. Denn es ist unbestritten, dass das räumliche Umfeld neben dem sozialen Umfeld des Menschen seine unverzichtbare Identifikationsgrundlage darstellt. „Heimat“ ist kein nationalsozialistischer Begriff, sondern eine uralte Tatsache, ein Gefühl. Dass dieses Gefühl in Deutschland von den Nationalsozialisten ausgenutzt wurde, darf heute nicht dazu führen, dass die Bedeutung von Landschaft für ihre Einwohner unterbewertet wird. Es gibt andere, bessere Formen, den deutschen Auswüchsen des Dritten Reiches ein für allemal abzuschwören, als die Bindung der Deutschen – wie aller Menschen – an ihr räumliches Lebensumfeld herunterzuspielen. Diese Bindung wird in den übrigen Ländern Europas als so bedeutsam empfunden, dass ihr nun eine eigene Konvention gewidmet wird.

Artikel 5 Punkt a) der europäischen Landschaftskonvention verpflichtet die Vertragsparteien ausdrücklich, „Landschaften als wesentlichen Bestandteil des Lebensraumes des Menschen, als Ausdruck der Vielfalt ihres gemeinsamen Kultur- und Naturerbes und als Grundstein ihrer Identität rechtlich anzuerkennen“.

Eine umfassende rechtliche Anerkennung und Würdigung von Landschaft, so wie sie in der europäischen Landschaftskonvention verstanden wird, ist weder im Bundesnaturschutzgesetz noch in den Naturschutzgesetzen der Länder zu finden, auch wenn diese teilweise als „Landschaftsschutzgesetz“ bezeichnet werden. Die europäische Landschaftskonvention geht somit weit über deutsches Recht hinaus. Die Naturschutzgesetzgebung verwendet zwar den Begriff „Landschaft“ recht häufig, zumeist aber in der bereits erwähnten Doppelformel „Natur und Landschaft“. Die einzigen Stellen des Bundsnaturschutzgesetzes, die sich etwas ausführlicher mit „Landschaft“ befassen, sind § 2 Absatz 1 Punkt 13, in dem „Landschaft“ jedoch gleich „auch wegen ihrer Bedeutung als Erlebnis- und Erholungsraum für den Menschen“ zweckgebunden wird. Bis zur Anerkennung der Landschaft in dem umfassenden Sinn der Europäischen Landschaftskonvention ist also noch ein weiter Weg zurückzulegen.

Die zweite Verpflichtung des Artikels 5: „eine auf den Schutz, die Pflege und die Gestaltung der Landschaft ausgerichtete Landschaftspolitik zu erarbeiten und umzusetzen“. Der Begriff „Landschaftspolitik“ klingt hölzern, da er hierzulande nicht verwendet wird (direkte Übersetzung von ´landscape policy´). „Gesundheitspolitik“ hingegen ist ein gerade in letzter Zeit viel verwendetes Wort. Das Nichtvorhandensein von „Landschaftspolitik“ im deutschen Sprachgebrauch – auch ein Indiz für den Stellenwert von Landschaft in Deutschland?
Die Begriffskombination „Schutz, Pflege und Gestaltung“ ist uns geläufiger, denn „Schutz, Pflege und Entwicklung von Natur und Landschaft“ ist in verschiedenen Gesetzen als Begriffskomplex etabliert, nicht zuletzt im Baugesetzbuch. Die Verwendung des neutraler erscheinenden Begriffs „Entwicklung“ allerdings übergeht dezent den Anteil des Menschen bei der Veränderung von Landschaften, impliziert Naturgesetzlichkeit. Gleichwohl hat menschliche Inanspruchnahme alle Faktoren unserer Kulturlandschaft maßgeblich beeinflusst, wie wir mittlerweile sehr gut wissen. Die Verwendung des Wortes „Gestaltung“ ist also durchaus angebracht: es entwickelt sich nicht, sondern wir bestimmen diese Entwicklung, wir gestalten sie.

Die europäische Landschaftskonvention bekennt sich zu dieser landschaftsgestaltenden Wirkung des Menschen. Sie fordert dazu auf, die Auswirkungen aller Maßnahmen auf die Landschaft vor dem Hintergrund der Zielvorstellungen, wie Landschaft sich entwickeln soll, ausdrücklich zu reflektieren. Jede Planung, die deutliche Auswirkungen auf die Entwicklung der Landschaft erwarten lässt, muss diese mit einer Landschaftsplanung so zu steuern suchen, dass die landschaftlichen Qualitätsziele der Gesellschaft nicht in Frage gestellt, sondern unterstützt werden. Von diesen Zielen soll im Weiteren noch die Rede sein.

Abschnitt C des Artikels 6 ist der Erfassung und Bewertung von Landschaften gewidmet. In diesem Abschnitt wird eine weitere Aufgabe der Landschaftsplanung genannt: „die nationalen Landschaften sind von den Unterzeichnerstaaten zu erfassen, ihre Charakteristika und die sie verändernden Kräfte und Belastungen zu analysieren sowie die Veränderungen zu beobachten“.

Landschaftsplanung muss demnach nicht nur flächendeckend aufgestellt, sondern auch kontinuierlich fortgeschrieben werden. Die Erfordernis einer Fortschreibung ergibt sich dabei nicht nur aus den räumlichen Veränderungen, sondern auch den Veränderungen gesellschaftlicher Wertvorstellungen im Laufe der Zeit.

In Deutschland ist die Landschaftsplanung zwar seit langem eingeführt, besitzt jedoch in den einzelnen Bundesländern unterschiedliche Rechtsverbindlichkeit und unterschiedliche Richtlinien für ihre Durchführung. Allein aus diesem Grund ist eine Vereinheitlichung sinnvoll, um im europäischen Rahmen mithalten zu können. Landschaftsplanung muss der bundesweit einheitlichen Raumordnung und Bauleitplanung in ihrem rechtlichen Stellenwert gleichgestellt werden. Die heute in Deutschland praktizierte Bauleitplanung ist im wesentlichen auf die bebauten Teilbereiche fokussiert und lässt den überwiegenden Teil der Flächen ebenso unberücksichtigt wie weitere Konsequenzen einer Siedlungsentwicklung. Wenngleich die „strategische Umweltprüfung“ demnächst einen Teil dieser Auswirkungen betrachten wird, steht doch zu befürchten, dass sie sich in Deutschland auf die Berücksichtigung der Umweltfaktoren im Sinne einer in Einzelteile zerlegten Landschaft reduzieren wird. Auch der Begriff „Landschaftsbild“ wird eher als Teil der Landschaft verstanden, da sich hinter ihm rein visuelle Betrachtung versteckt und er weitere Sinneswahrnehmungen wie auch das Übersinnliche von Landschaft unberücksichtigt lässt.

Bereits mit der späten Berücksichtigung der EU-Richtlinie über die strategische Umweltprüfung befindet sich Deutschland in der hintersten Reihe europäischer Staaten. Auch bei der Umsetzung der FFH-Richtlinie hat unser Land keine gute Figur gemacht. So wäre es vielleicht gar nicht schlecht für uns, wenn Deutschland auch im Bereich der Landschaftsplanung von anderen europäischen Staaten überflügelt würde, denn die damit verbundenen Erfahrungen in anderen Ländern könnten die deutsche Planungspraxis nur bereichern und beleben. Die Unverbindlichkeit der Landschaftsplanung in Deutschland jedenfalls hat nur dazu geführt, dass sie in den überwiegenden Teilen des Landes ohne substanzielle Bedeutung ist, dass ihre Inhalte vielerorts aus Kostengründen bis zur Unkenntlichkeit zusammengestrichen werden – als „Genehmigungsbeiwerk“ für die Bauleitplanung.

So lange der Landschaftsplan noch als „von oben“ auferlegter Zwang gesehen wird und nicht der Einsicht in die Notwendigkeit entspringt, die Gestaltung des eigenen Lebensumfeldes selbst aktiv in die Hand zu nehmen, wird sich hieran nichts ändern. Es mag der deutschen Mentalität entsprechen, stets auf Veränderungen von „oben“ zu warten – dem Geist der europäischen Landschaftskonvention entspricht es keinesfalls. Artikel 4, der die Aufteilung von Zuständigkeiten regelt, betont ausdrücklich die Beachtung der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung und des Subsidiaritätsprinzips. Die Kommunen können demnach die Gestaltung ihrer Landschaft deutlich selbstbewusster in die Hand nehmen, müssen aber auch erkennen, dass der häufig strapazierte Begriff der „Planungshoheit“ auch die Verpflichtung zu einer umfassenden Planung beinhaltet. Es wäre bereits viel gewonnen, wenn die deutschen Kommunen und Regionalbehörden diese europäische Grundhaltung überhaupt einmal wahrnehmen würden.

Vor dem Hintergrund einer ausdrücklichen Ermutigung von Initiativen auf den untersten Ebenen ist auch verständlich, dass die europäische Landschaftskonvention die „landschaftsbezogenen Qualitätsziele“, welche durch die räumliche Planung zu verfolgen sind, nicht aus der Autorität einer Fachbehörde, sondern als Ergebnis einer öffentlichen Befragung entstehen lassen will. Die dritte Verpflichtung des Artikels 5 der Europäischen Landschaftskonvention fordert ausdrücklich „Verfahren für die Beteiligung der Öffentlichkeit, der Kommunal- und Regionalbehörden und anderer Parteien einzuführen, die ein Interesse an der Festlegung und Umsetzung der (…) Landschaftspolitik haben“.

In Deutschland, wo vor gar nicht allzu langer Zeit die Frage eines allgemeinen Betretensverbotes der Wälder bei Nacht ernsthaft politisch diskutiert wurde, dürfte eine solche Befragung sicherlich nicht zu jedermanns Zufriedenheit verlaufen, zumindest nicht zu der von Jägern oder Forstleuten. Vielleicht liegt auch hieran, dass die europäische Landschaftskonvention in der deutschen Fachwelt offenbar nicht auf großen Enthusiasmus stößt, denn auch Naturschutzverwaltungen sind gelegentlich sehr empfindlich gegen eine Mitspracherecht der Bevölkerung bei „naturschutzfachlichen“ Fragen.

Genau aber diese Bevormundung bringt die Bürger unseres Landes gegen Regierung und Bürokratie auf. In einer demokratischen Gesellschaft sollte ein wichtiger Parameter für Planungsqualität darin bestehen, wie sehr sich die Einwohner einer Region mit deren Veränderung durch einzelne Maßnahmen identifizieren. Zufriedenheit kann nur entstehen, wenn die Bürger umfassend über alle Entwicklungsvarianten informiert werden, wenn ihnen durch umfassende Information auf vielen Ebenen ihres Lebens ein Einblick in die Gesetzmäßigkeiten gegeben wird, welche die Gestaltung ihrer Lebenswelt bewirken, und wenn ihnen durch Abfragen ihrer Vorstellungen bereits zu Beginn eines Planungsprozesses die Chance gegeben wird, sich einzubringen und an der Gestaltung ihrer Landschaft mitzuwirken.

Die Verpflichtung zur umfassenden Mitwirkung der Öffentlichkeit muss als eine zentrale Aussage der europäischen Landschaftskonvention verstanden werden, denn hier gibt sie europäischen Innovationsgeist und ein Demokratieverständnis preis, welches auf das Prinzip „von unten nach oben“ ausgerichtet ist. Die europäische Landschaftskonvention ist somit alles andere als das Instrument eines neuen europäischen Zentralismus, der gelegentlich von nationalen Interessenvertretern beschworen wird. Die Unterschiedlichkeit der Institutionen Europarat und EU manifestiert sich hier ein weiteres Mal und unterstreicht die Notwendigkeit einer unabhängigen normativen Instanz in Straßburg.
Auf welche Weise die Einbeziehung der Menschen bei der Gestaltung von Landschaften erfolgen kann und soll, wird in Artikel 6, welcher spezifische Maßnahmen zur Umsetzung der Verpflichtungen des Artikels 5 zum Inhalt hat, weiter ausgeführt. Vom Schulunterricht beginnend über die Ausbildung von Fachleuten bis hin zu multidisziplinären Aus- und Weiterbildungsprogrammen soll Inhalt und Bedeutung von Landschaft vermittelt werden. Landschaft soll so dem ausschließlichen Wirkungsbereich von Fachleuten und Politikern entzogen, ihre Veränderung im Plenum der Öffentlichkeit diskutierbar werden. Das hierfür erforderliche öffentliche Bewusstsein soll durch spezifische, breit angelegte Ausbildung erzeugt werden.

Diese Forderung wird durch die vierte Verpflichtung des Artikels 5 unterstützt: „die Landschaft (ist) in ihre Regional- und Städteplanungspolitik und in ihre Kultur-, Umwelt-, Agrar-, Sozial- und Wirtschaftpolitik sowie in andere, sich möglicherweise unmittelbar oder mittelbar auf die Landschaft auswirkende Politiken aufzunehmen“.

Die hier gezeigte Interdisziplinarität, die auch an anderer Stelle ausdrücklich als Anliegen der europäischen Landschaftskonvention genannt wird, ist eine logische Konsequenz der Anerkennung einer landschaftlichen Totalität. Zu lange war Landschaft einigen Fachspezialisten vorbehalten; ausschließlich Naturwissenschaftlern und Ingenieuren, obwohl die Geisteswissenschaften und die Künste stets ihren Bezug zur Landschaft deutlich gemacht und über Jahrhunderte Belege dafür geliefert haben, wie wichtig dem Menschen sein räumliches Umfeld ist. Interdisziplinäre Arbeit ist der erfolgversprechendste Ansatz, dem für den Einzelnen unüberschaubaren Komplex Landschaft halbwegs gerecht zu werden.

Grenzen haben stets eine einengende Wirkung, seien sie fachspezifischer oder nationaler Art. So ist folgerichtig, dass die europäische Landschaftskonvention der Internationalität einen hohen Stellenwert beimisst. Artikel 8 und Artikel 9 widmen sich ausdrücklich den Fragen der gegenseitigen Hilfe und des Erfahrungsaustausches der Unterzeichnerstaaten sowie der Zusammenarbeit bei der Verwaltung und Gestaltung grenzüberschreitender Landschaften. Hiermit sind nationale Grenzen gemeint. In Deutschland wäre bereits viel gewonnen, wenn die grenzüberschreitende Zusammenarbeit auch innerhalb des Landes in Schwung geraten würde. Eine Novellierung der Ländernaturschutzgesetze und des Baurechts zum Zwecke der Vereinheitlichung wäre hier ebenso sinnvoll wie die Schaffung gemeinsamer Standards der Landschaftsplanung. Nicht zuletzt sollte auch die Verwaltung vereinheitlicht werden. So fragt man sich, wofür das Wattenmeer zwei Nationalparks mit unterschiedlichen Schutzverordnungen und eigenen Verwaltungen braucht, nur weil es in zwei Bundesländern liegt. Dies kostet Geld, führt zu Widersprüchen und ist einfach – kleinkariert. Die europäische Landschaftskonvention könnte der erste Schritt einer Entwicklung sein, an deren Endpunkt ein europäischer Nationalpark „Wattenmeer“ von Den Helder bis Esbjerg steht.

Das Prinzip „von unten nach oben“ sowie der Innovationsgeist der europäischen Landschaftskonvention sollen durch eine Ermutigung
besonders gefördert werden: den Landschaftspreis des Europarats. Hiermit setzt die Europäische Landschaftskonvention ihren Innovationen die Spitze auf. Üblicherweise endet ein deutsches Gesetz mit Vorschriften über Strafen und Bußgelder. Hier ist es genau umgekehrt: das wesentlich konstruktivere Ermutigungsprinzip bestimmt den Ausblick der Europäischen Landschaftskonvention. Im Zielkreis des Landschaftspreises liegen nicht nationale Regierungen oder Behörden, sondern ganz bewusst wird auf Kommunal- und Regionalbehörden, von ihnen gebildete Gruppen und auch auf nichtstaatliche Organisationen abgezielt, die im Bereich des Schutzes, der Pflege oder der Gestaltung der Landschaft einen besonders bemerkenswerten Beitrag geleistet haben.

Es ist schwierig, eine Einschätzung darüber zu geben, welchen Effekt die europäische Landschaftskonvention auf zukünftige Entwicklungen haben könnte. Sicherlich wird sie am ehesten in Bereichen aufgenommen werden, in denen die Identifikation einer Volksgruppe mit ihrem räumlichen Umfeld und ihrer kulturellen Tradition bereits existiert. Die Veranstaltung „Kulturlandschaft Nordseemarschen“ des Nordfriisk Instituut im März 1996 beispielsweise war Zeugnis dafür, dass Landschaft in der Volksgruppe der Friesen einen Stellenwert besitzt, der den Zielen der europäischen Landschaftskonvention sehr nahe kommt. Auch in Franken, im Eichsfeld oder in Schwaben könnte die Identifikation einer Volksgruppe mit ihrem Lebensraum die Umsetzung der europäischen Landschaftskonvention erleichtern.

All diesen Volksgruppen ist gemein, dass Landschaft einen erheblichen Teil ihrer Identifikationsgrundlage einnimmt. Weitere Identifikationsfaktoren sind eng mit ihr verbunden: Siedlungsformen, Bauweisen, Mundarten, regionale Handwerkskunst, spezielle Produkte der Landwirtschaft, Bodenschätze, aber auch bestimmte regionale Schwächen und Probleme. All dies hat über Jahrhunderte nicht nur physische Landschaften geformt, sondern auch deren Abbilder in den Köpfen. Mentalitäten spielen bei der Definition bestimmter Landschaften und ihrer Bewohner eine wichtige Rolle. Die Typisierung des Westfälischen Dickschädels, der Berliner Schnauze und der Rheinischen Frohnatur sind nicht „ausländische“ Vorurteile, sondern entstammen einer humorvollen Selbstbeschreibung der betreffenden Volksgruppen und sind mithin feste Bestandteile ihrer Identifikation.

Es ist daher mehr als gerechtfertigt, eine landschaftliche Gliederung Deutschlands, wie sie die Europäische Landschaftskonvention anregt, nicht allein von Geographen oder Kartographen definieren zu lassen, sondern vor allem auch den Einwohnern die Möglichkeit einzuräumen, „ihre“ Landschaft zu umreißen. Allerdings muss deutlich werden, wozu eine solche Typisierung dienen soll. Sie ist der erste Schritt zu einer basisdemokratischen Gesellschaft, in der die Selbstbestimmung über die Gestaltung des räumlichen Umfeldes der Identifikation der Einwohner mit ihrer Landschaft entspringt. Die Tatsache, dass Volksgruppen und Landschaften gemeinsam im Laufe der Zeit geformt wurden, stellt eine denkbar gute Grundlage für eine Konsensfindung dar.

Dieser Konsens muss sich beileibe nicht auf Fragen der landschaftlichen Entwicklung beschränken. Die Totalität von Landschaft zieht zwangsläufig weitere Kreise. Die deutsche Bauleitplanung beispielsweise lässt viele Fragen offen, die mit ihr unmittelbar verknüpft sind. An Schulbezirken, öffentlichen Verkehrsmitteln und ihrer Fahrplangestaltung entzünden sich regelmäßig öffentliche Debatten mit überwiegend negativem Grundtenor: Unzufriedenheit, die entsteht, wenn Entscheidungen ohne eine Beteiligung der Öffentlichkeit von Politikern oder Behörden gefällt werden.

Gemeinsame Wurzeln, gemeinsame Landschaft, gemeinsames Handeln: Visionen einer europäischen Einheit in der Vielfältigkeit? Auf jeden Fall eine Alternative zur Lobbydemokratie mit ihrem scheinbar objektiven Bürokratismus. Und sicherlich auf der Ebene des Einzelnen erheblich konsensfähiger als ein zentralistisches, unüberschaubares Verwaltungssystem. Allein aus diesem Grunde wäre sicher lohnenswert, nach der Bestimmung von Landschaften im Sinne der europäischen Landschaftskonvention auch die heutige Abgrenzung von Verwaltungseinheiten einer kritischen Beurteilung zu unterziehen.

Ein Faden, der zu lang gesponnen wird, reißt. Aus diesem Grund soll die Darstellung der Perspektive, die durch die Einführung der Europäischen Landschaftskonvention erkennbar wird, an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Vielleicht wurde hinreichend deutlich, dass es hierbei um weit mehr geht als um die Erhaltung außergewöhnlicher Kulturlandschaften. Möglicherweise wurde auch deutlich, dass Deutschland beileibe kein Musterstaat bei der Berücksichtigung von „Land und Leuten“ ist. Dass es eine Vielzahl von Möglichkeiten gibt, die räumliche Planung in unserem Land umfassender und effizienter zu gestalten – unter aktiver Mitarbeit der Betroffenen. Dass der gegenwärtig in Deutschland zu verzeichnende Unmut auch dem Gefühl des Einzelnen entspringt, dass seine Meinung zu konkreten Entwicklungen nicht zählt – und er mit dieser Einschätzung nicht allein steht.

Angesichts dieser Stimmung in Verbindung mit den gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Problemen in Deutschland sind grundlegende Veränderungen in naher Zukunft keine Utopie, sondern sehr wahrscheinlich. Es ist ermutigend, dass der Europarat mit der europäischen Landschaftskonvention auf Selbstbestimmung, Nachhaltigkeit und eine Politik von unten nach oben setzt: Werte, die in Deutschland bislang über den Status von Lippenbekenntnissen nicht hinausgekommen sind. Ermutigend ist ferner, dass viele Staaten in Europa diese Tendenz bereits aufgegriffen haben und in ihren nationalen Regelwerken umsetzen. Der lebhafte Austausch zwischen den europäischen Staaten wird den Erfolg der neuen Politik auch in Deutschland nicht im Verborgenen bleiben lassen.


© Dr. Christoph Schwahn, 2004