Skandal oder Bagatelle: Deutschland unterzeichnet nicht die europäische Landschaftskonvention
von Dr. Christoph Schwahn Dieser Artikel erschien in leicht abgewandelter Form in NATURSCHUTZ UND LANDSCHAFTSPLANUNG 2-3/2001
Im Frühjahr 1999 habe ich im Internet eine Suche nach dem Begriff "Europäische Landschaftskonvention" gestartet. Sie war in Deutschland erfolglos und brachte lediglich in der Schweiz zwei Erwähnungen. Eine Suche nach den Begriffen "European Landscape Convention" auf im englischen bzw. "Convention Euopéenne du Paysage" im französischen Sprachraum des Netzes förderte hingegen eine Vielzahl von Ergebnissen zutage.
Heute, Ende 2000, sieht das Ergebnis immer noch ähnlich aus. Zumindest unter Fireball wurde meine Homepage als das einzige deutsche Suchergebnis ausgeworfen. In der Schweiz tut sich dazu viel mehr, allein die Homepage des Goetheanums in Dornach gibt eine Vielzahl von Infos zur Europäischen Landschaftskonvention, nachdem dort eine Tagung stattgefunden hatte.
Wundert es dann, dass Deutschland nicht zu den Unterzeichnerstaaten dieser Konvention gehört? In aller Stille, hierzulande völlig unbemerkt, unterzeichneten die Vertreter der Länder Belgien, Bulgarien, Kroatien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Italien, Litauen, Luxemburg, Malta, Moldavien, Norwegen, Portugal, Rumänien, San Marino, Spanien, Schweiz und Türkei am 20. Oktober 2000 in Florenz die Europäische Landschaftskonvention. Also überwiegend Ostblockstaaten und Mittelmeerländer, denen nicht wenige Deutsche sich in puncto Umweltbewusstsein und Umweltstandards haushoch überlegen fühlen.
Ist die Nichtunterzeichnung der europäischen Landschaftskonvention durch Deutschland ein Skandal oder eine Bagatelle?
Natürlich kann man einwenden, dass die europäische Landschaftskonvention nur vage Formulierungen beinhaltet und die Ausfüllung des weiten, durch sie vorgegebenen Rahmens den Unterzeichnerstaaten auf deren nationaler Ebene überläßt. Man könnte weiter argumentieren, dass wir in Deutschland eine gute Naturschutzgesetzgebung haben, so dass wir keine übergeordnete Landschaftskonvention brauchen. Wenn man nur stark genug an die Effizienz deutscher Naturschutzgesetze und an die führende Rolle Deutschlands in dieser Hinsicht glaubt, kann man sich mit dieser Position zufriedengeben und vielleicht auch seine Vorurteile gegenüber den Umweltstandards europäischer Nachbarländer weiter pflegen.
Wer allerdings sich seit Jahrzehnten mit der Unzulänglichkeit und Ungereimtheit der deutschen Naturschutzgesetzgebung auseinandersetzt, mag hier von Zweifeln befallen werden. Die Landschaftsplanung als das Instrument einer vorausschauenden, ganzheitlichen Landschaftsentwicklung, hat sich de facto in Deutschland nicht durchsetzen können. Somit existiert kein einheitliches Leitbild über die Entwicklung deutscher Landschaft oder den Umgang mit ihr. Der Naturschutz verliert in zunehmendem Maße an Mittelzuwendungen der öffentlichen Hand und kann nur seine Beamten und Angestellten, nicht aber die ihnen anvertrauten Flächen unterhalten oder gar im Sinne der gewünschten Entwicklung pflegen. Die Arbeit der Naturschutzverwaltung erschöpft sich in der Erstellung von Schriftstücken, obwohl immer mehr Flächen unter Schutzkategorien der Naturschutzgesetze fallen und entsprechend gepflegt und entwickelt weden müssen.
So werden engagierte Naturschützer in die Rolle von Bremsern gedrängt, die Vorgänge verhindern wollen, welche Arbeitsplätze schaffen oder dem Freizeitspassvergnügen der Nation dienen - und wenn es nur das Autofahren ist. Naturschützer sind im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit unserer Gesellschaft zu Spassverderbern, Vogel- und Käferzählern reduziert.
Und keine Chance für die Kollegen, sich in einem anderen Licht darzustellen. Anders als die Forstverwaltung verfügt die Naturschutzverwaltung weder über eine eigenständige, von Einheitsbehörden unabhängige Verwaltungsorganisation, noch über eigene, fiskalische Flächen. Sie kann nicht konstruktiv bei der Gestaltung der Landschaft tätig werden, kann keine Imgagepflege betreiben, wie es die Forstverwaltung mit Lehrpfaden und -veranstaltungen sowie mit praktischem Naturschutz auf eigenen Flächen praktiziert. "Wald in guten Händen" da ist schon was dran am Slogan der Niedersächsischen Forstverwaltung. Doch in wessen Händen liegt unsere Landschaft?
Ein bemerkenswertes Detail an der europäischen Landschaftskonvention ist die Tatsache, dass sie ein hohes Gewicht auf die Beteiligung der lokalen Bevölkerung an der Landschaftsenwicklung legt. Dies ist in der Tat für deutsche Verhältnisse ungewöhnlich. In Deutschland ist man gewöhnt, dass Fachverwaltungen die Richtlinien für den Umgang mit Natur bestimmen.
Beispielsweise lassen sich die Naturschutzbehörden nicht von der Bevölkerung sagen, was an unserer Landschaft vielfältig, eigenartig und schön ist. Der Begriff der Schönheit wird dabei bewusst ausgeklammert, da er nicht objektivierbar ist. Allenfalls wird er als Folge von landschaftlicher Vielfalt und Eigenart dargestellt, gewissermaßen in der Funktion: Vielfalt mal Eigenart gleich Schönheit. Und das möglichst in Dezimalwerten. Damit auch niemand auf die Idee kommt, die naturschutzfachlich attestierte Schönheit einer Landschaft in Zweifel zu ziehen.
Die europäische Landschaftskonvention sieht das anders. Sie billigt der Bevölkerung zu, auf lokaler Ebene Standards für die Schönheit oder auch für weitere Parameter der Landschaftsentwicklung zu setzen. Die Behörden haben nach europäischer Auffassung eher die Funktion eines Moderators. Sie sollen Diskussionen über Landschaft anregen, sie sollen auch dazu erziehen, die Landschaft unter verschiedenen Gesichtspunkten zu betrachten. Sie sollen die Willensbildung der Bevölkerung fördern und den Willen erkunden, ihn in konkrete Handlungen umsetzen oder umsetzen helfen. Und wer die beste Idee hierzu hat, bekommt den europäischen Landschaftspreis, der gleichzeitig mit der Europäischen Landschaftskonvention ausgeschrieben wurde.
Noch eine Sache ist anders an der europäischen Landschaftskonvention: sie wendet sich allen Landschaften zu. Den schönen wie den häßlichen, den natürlichen ebenso wie den Agrarsteppen. Auch das ist ungewöhnlich in Deutschland. Landwirte, die ganze Landstriche in monotone Ackerwüsten verwandelt haben, geraten mit dem Naturschutz kaum in Konflikt, denn der hat hier keine Aktien mehr. Den Landwirten aber, die in schwierigen geographischen und klimatischen Verhältnissen an diese angepasst gewirtschaftet haben und mit dieser traditionellen Wirtschaftsweise ökologisch hochwertige und ästhetisch ansprechende Landschaften über Generationen erhalten und kultiviert haben, sitzt heute der Naturschutz im Nacken und kontrolliert jede ihrer Maßnahmen mit strengem Blick.
Ist das gerecht? In Deutschland entspricht dies geltendem Recht. Auf europäischer Ebene deutet sich in der Landschaftskonvention jedoch eine andere Sichtweise an. In vielen europäischen Ländern gibt es neben den großen, landwirtschaftlichen Intensivbetrieben noch eine Vielzahl kleinbäuerlicher Betriebe, die unter hierzulande unvorstellbar ärmlichen Verhältnissen Kulturlandschaften mit hohem ökologischen und ästhetischen Wert erhalten. Es ist aus europäischer Sicht nur gerechtfertigt, wenn diese Leistung künftig mehr in das gesellschaftliche Blickfeld gerät - und auch von der Allgemeinheit angemessen unterstützt wird.
Aus traditioneller deutscher Sicht, und zwar nicht nur aus jener der Landwirtschaft, sondern auch und gerade aus jener der deutschen Naturschützer, ist die europäische Landschaftskonvention somit etwas Revolutionäres. Die einen mögen sie begrüßen, wenn sie hierin einen Ansatz zur Veränderung der verkrusteten nationalen Naturschutzsituation erkennen. Den anderen mag sie suspekt erscheinen, denn sie stellt die naturschutzfachliche Autorität hinter den artikulierten Bürgerwillen. Den meisten jedoch ist sie vermutlich unbekannt, sie schlafen ruhig weiter in ihrer Auffassung, Deutschland führe Europa in puncto Natur- und Umweltschutz an.
Stellen wir einmal die Frage, warum Deutschland nicht unterzeichnet hat, beiseite. Die Nichtunterzeichnung war ja nur der Endpunkt einer konsequenten Ignoranz. Wer aber ist für die Tatsache verantwortlich, dass die europäische Landschaftskonvention hierzulande unbekannt ist? Dass nicht mal eine deutsche Übersetzung existiert, die verdient, die deutsche Fassung genannt zu werden (es existiert gegenwärtig nur ein maschinell übersetzes, unverständliches Papier, welches sich von der englischen Originalversion so unterscheidet wie der Struwwelpeter von Schillers "Räubern")?
Die Ignoranz gegenüber der europäischen Initiative, die Entwicklung der Landschaften Europas durch eine gemeinsame Vorgehensweise auf den Boden eines pluralistischen und explizit dezentral angelegten Konzeptes zu stellen, ist kein Problem der EU, sondern primär ein deutsches. Ein Land, welches sich wie kaum ein anderes in Europa seit langem intensiv mit seiner Landschaft beschäftigt und dennoch bei der Erarbeitung europäischer Rahmenrichtlinien zur Landschaftsentwicklung außen vor bleibt, muss sich die Frage gefallen lassen, ob seine gesetzlichen Regelungen und jene, die sie ausfüllen und überwachen sollen, wirklich die Entwicklung der Kulturlandschaft des nächsten Jahrtausends im Blick haben.
Kulturlandschaft ist vielschichtig und stets in Entwicklung begriffen. Sie ist die existenzielle Grundlage nicht nur für Pflanzen- und Tiere, sondern auch für den Menschen. Unstrittig ist die enge materielle und auch ideelle Beziehung, die der Mensch zu seiner Landschaft von Beginn seiner Existenz an besitzt. Die Schichten dieser Beziehung sind unzählbar und hoch komplex. Bereits als Individuum ist der Mensch ein hochkompliziertes Gebilde aus Körper und Seele. Als Gesellschaft potenziert sich diese Vielschichtigkeit. Dem gegenüber ist die Landschaft nicht weniger vielfältig zusammengesezt; die Gesetzmäßigkeiten der Ökologie sind nur zu einem Bruchteil bekannt. Es ist mehr als fraglich, ob wir je in der Lage sein werden, die Beziehung von Mensch und Landschaft in ihren wesentlichen Grundzügen zu erforschen. Die Autorität der Fachleute steht somit auf einer sehr schmalen Basis.
Dem Komplex der höchst vielschichtigen Beziehung des Menschen zur Landschaft wird eine statische, eher auf fachliche Autorität denn auf gesellschaftlichen Konsens basierende Naturschutzgesetzgebung und Landschaftsverwaltung nicht gerecht. Es mehren sich die Anzeichen, dass sich die Kluft zwischen Gesellschaft und Naturschutz verbreitert, dass sich die Fronten erhärten und Konflikte weder auf fachlicher Ebene noch auf der Basis eines breiten gesellschaftlichen Konsenses gelöst werden. Vielmehr fallen die Entscheidungen in zunehmendem Maße auf politischer Ebene: in Form von Lobbyistenrangeleien, Zickzackentscheidungen vor und nach Wahlen oder des schweigenden Aussitzens.
Es stellt sich die Frage: wie kommen wir heraus aus dieser Falle, aus diesen eingefahrenen Wegen, auf denen die Steuerung einer gleichermaßen ökologisch sinnvollen wie konsensfähigen Entwicklung der Landschaft in vielen Punkten bereits festgefahren erscheint. Ist unsere Naturschutzverwaltung überhaupt in der Lage, die gegenwärtige Krise zu überwinden? Wohl kaum, denn ihr Instrumentarium ist beschränkt und wird weiter beschnitten. Ausserdem bedarf es einer besonderen Kraftanstrenung, einem Rahmen, nach dem man täglich seine Handlungen und Wertvorstellungen ausrichtet, zu entwachsen.
Die Lösung ist wohl eher auf einer anderen Ebene zu suchen: der kulturellen. Landschaft hat nur zu einem Teil mit Ökologie zu tun. Landschaft ist auch ein Produkt menschlicher Kultur, Unkultur, Subkultur oder wie wir immer die Art und Weise des Menschen, mit seinem Lebensraum umzugehen, werten wollen. Warum haben sich Maler, Schriftsteller, Poeten stets aufs Neue mit Landschaft auseinandergesetzt, sie in ihren Bildern, Romanen oder Gedichten festgehalten. Wie wir mit Landschaft umgehen, wie uns Landschaft prägt: dies alles verhilft uns zur Selbsterkenntnis, zur Beantwortung der ständig präsenten Frage, wer wir sind, wo wir sind und wo wir hinwollen. Die Identifikation des Menschen mit seinem Lebensraum ist ein wichtiger Bestandteil seiner Identität. Und auch die ethischen Wertvorstellungen des Menschen drücken sich nicht nur darin aus, wie er mit Seinesgleichen umgeht, sondern auch, wie er seinen Lebensraum behandelt.
Es ist kein Zufall, dass die Europäische Landschaftskonvention im Bereich der Kulturverwaltung des Europarates veröffentlicht ist. Der neue deutsche Bundeskulturminister sollte sich als Philosoph des Themas Landschaft annehmen. Landschaft betrifft nicht nur die Ökologen. So sollten sich auch Geisteswissenschaftler, Künstler und Sozialwissenschaftler in verstärktem Maße mit der Frage der Landschaftsveränderung befassen, die von den Anforderungen unserer Gesellschaft ausgeht. Landschaftskultur regt an zu interdisziplinärer Diskussion, sie ist ein Ansatzpunkt, um endlich die Grenzen der fachlichen Einengung und Spezialisierung zu durchbrechen. Landschaftskultur ist die Aufforderung, grenz- und fachüberschreitend zusammenzuarbeiten. Die europäische Landschaftskonvention könnte auch hierzulande genutzt werden, um diesen Prozess einzuleiten.
© Dr. Christoph Schwahn, November 2000